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Parlamentarischer Abend in Brüssel: Nanomaterialien müssen endlich einheitlich definiert werden
Auf Einladung der Staatssekretärin im Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz
Baden-Württemberg, Friedlinde Gurr-Hirsch MdL, diskutierten Vertreterinnen der Europäischen Kommission, des Europäischen
Parlamentes, der Kosmetik-Industrie, der amtlichen Überwachung und des Verbraucherschutzes am 19. März 2018 in Brüssel
über die Möglichkeiten, die EU-Kennzeichnung von Nanomaterialien in Kosmetika weiter zu entwickeln.
Seit dem Jahr 2011 regelt die EU-Kosmetikverordnung, unter welchen Bedingungen nanoskalige Inhaltsstoffe in Kosmetika eingesetzt werden
dürfen. Ebenso lange müssen solche Stoffe in der Liste der Inhaltsstoffe (INCI) deutlich gekennzeichnet werden. Im Jahr 2015
ließ das Verbraucherministerium Baden-Württemberg untersuchen, wie stark nanomaterialhaltige Kosmetika eigentlich in den
Sortimenten baden-württembergischer Einzelhändler vertreten sind, welche Fragen das möglicherweise bei Verbrauchern aufwirft
und wie die Händler mit diesen Informationsbedürfnissen umgehen. Staatssekretärin Gurr-Hirsch begrüßte die
Vertreterinnen und Vertreter des Europäischen Parlaments und der Kommission, des Deutschen Bundestages, Landesministerien und
-vertretungen, von Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Wissenschaft sowie Journalistinnen und Journalisten, die
ihrer Einladung in die Landesvertretung Baden-Württemberg gefolgt waren, um über die Möglichkeiten zu diskutieren, aus
diesen Erfahrungen für die Zukunft zu lernen.
Baden-Württemberg engagiert
In ihren einleitenden Worten hob Staatssekretärin Gurr-Hirsch das besondere Engagement hervor, das Baden-Württemberg im
verantwortungsvollen Umgang mit den Nanotechnologien auszeichnet. So seien viele mittelständische Unternehmen des Landes in Sachen
Forschung und Entwicklung vorn dabei. Von den etwa 400 Firmen, die in Baden-Württemberg Kosmetika herstellten, importierten oder
vertrieben, hätten etwa 25 Produkte mit Nanomaterialien im Sortiment. Mit dem Nano-Dialog Baden-Württemberg sei das Land zudem
beispielhaft für die Einbindung von Verbraucherinnen und Verbrauchern in die gesellschaftliche Diskussion zum Umgang mit diesen
Technologien.
Überwachung: Klarheit und Praxistauglichkeit fehlen
Sie übergab das Wort an Claudia Baumung vom Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Karlsruhe (CVUA Karlsruhe) und Laura Gross
von der VERBRAUCHER INITIATIVE e.V., die die Ergebnisse der Studie "Marktübersicht für kosmetische Produkte mit Nanotechnologien in
Baden-Württemberg" vorstellten. Dabei beleuchtete Frau Baumung, was die derzeitige Rechtslage für die Marktüberwachung bedeutet und welche Defizite
sich in der Praxis zeigen. So stellten die verschiedenen Definitionen des Begriffs "Nanomaterial" für Kosmetika und Lebensmittel die
Überwachungsbehörden vor die Aufgabe, dieselben Stoffe auf unterschiedliche Weise analysieren und bewerten zu müssen. Darüber hinaus
würden die genauen Charakteristika der eingesetzten Nano-Rohstoffe in der Wertschöpfungskette häufig nur unzureichend
vermittelt, so dass weder die Verarbeiter noch die Überwachung wüssten, was genau da im Einsatz sei. Zudem fehle es an
standardisierten Methoden, mit denen in verschiedenen Untersuchungsämtern die gleichen Ergebnisse erzielt werden könnten. Und
nicht zuletzt seien die vorhandenen Analyse-Methoden derzeit nicht für die große Zahl an Proben geeignet, die in
Routine-Verfahren untersucht werden müssen.
Verbraucher: Im Alltag auf sich selbst gestellt
Laura Gross stellte die Erfahrungen aus dem Einkaufsalltag der Verbraucherinnen und Verbraucher in den Mittelpunkt. Für die schnelle
Information stehen ihnen die Verpackungsaufschriften und insbesondere die Liste der Inhaltsstoffe (INCI) zur Verfügung, bei Fragen
können sie sich an den Händler wenden. Aus den Ergebnissen einer Händlerbefragung lasse sich jedoch die berechtigte Vermutung ableiten, dass Händler auf Fragen nach
konkreten Inhaltsstoffen und ihren Charakteristika nicht vorbereitet sind. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien für die Beantwortung
weit überwiegend auf sich allein gestellt und delegierten sie an die Hersteller. Die Einkaufssituation im Selbstbedienungshandel sei
für eine umfangreichere Beratung zudem nicht förderlich. Als einzige objektive Information über die Zusammensetzung
kosmetischer Mittel haben Verbraucherinnen und Verbraucher "das Kleingedruckte" der INCI auf der Verpackung; "(nano)" muss dort hinter
allen Inhaltsstoffen stehen, die zu den Nanomaterialien gehören. Frau Gross machte deutlich, was sich in den Eye-Tracking-Untersuchungen der Studie
gezeigt hatte: Die Masse der Verbraucherinnen und Verbraucher kann mit der INCI nichts anfangen und nimmt daher auch die Nano-Kennzeichnung
nicht wahr.
Podiumsdiskussion
"Verbraucherinnen und Verbraucher sind im Einzelhandel bei Fragen zu Nanomaterialien auf sich allein gestellt - oftmals nehmen sie die Art
und Weise der Kennzeichnung gar nicht wahr" fasste Staatsekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch eines der wesentlichen Ergebnisse aus dem
Marktcheck zusammen. Unter der Moderation von Prof. Lucia Reisch diskutierten die Expertinnen aus Verbraucherschutz, Forschung und
Überwachung, Industrie, EU-Parlament und EU-Kommission Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung. Dafür saßen auf dem
Podium:
- Friedlinde Gurr-Hirsch MdL (Staatssekretärin im Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg)
- Dr. Elke Anklam (Direktorin für Gesundheit, Konsumenten, Referenzmaterialien an der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission)
- Laura Gross (Die VERBRAUCHER INITIATIVE e.V., www.nanoportal-bw.de)
- Birgit Huber (Bereichsleiterin Schönheitspflege des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel e.V.)
- Sylvia Maurer (Direktorin für Nachhaltigkeit & Sicherheit des Europäischen Verbraucherverbandes BEUC)
- Susanne Melior MdEP (Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments)
Moderation: Prof. Dr. Lucia Reisch (Copenhagen Business School/Zeppelin Universität Friedrichshafen)
Die Expertinnen waren sich darin einig, dass eine einheitliche Definition des Begriffs "Nanomaterialien" im Kosmetik- und
Lebensmittelrecht dringend fehle. Prof. Anklam wies jedoch auch darauf hin, dass die Europäische Kommission um die Notwendigkeit
standardisierter Analysemethoden wisse, ihre Entwicklung jedoch noch etwas Zeit brauche. Trotz allem funktioniere die Risikobewertung gut
und die Sicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher sei gewährleistet. Das stellte auch Birgit Huber klar, die auf die Vorsicht
und Umsicht der Kosmetik-Hersteller verwies, die alle nötigen und möglichen Sicherheitsstudien durchführten. Für das
Dilemma, immer mehr Informationen auf dem begrenzten Platz kleiner Kosmetik-Verpackungen unterbringen zu wollen, machte sie einen
konstruktiven Lösungsvorschlag: Viele Informationen könnten künftig digital hinterlegt und mit Hilfe eines QR-Codes für
alle Verbraucherinnen und Verbraucher bequem zugänglich sein. Laura Gross wies darauf hin, dass dies eine gute Lösung für
das Platz-Problem sei, Verbrauchern aber keine zusätzliche Orientierung böte. Sie forderte daher, die INCI mittelfristig im
Ganzen zu reformieren und nach dem Vorbild der Zusatzstoff-Kennzeichnung auf Lebensmitteln die Funktion der Inhaltsstoffe anzugeben. Sylvia
Maurer griff die Schwierigkeiten bei der Überwachung auf und warb dafür, die Diskussion um eine sinnvolle Definition nicht allein
auf die Partikelgrößen zu beschränken. Für eine wirksame Risikobewertung und Überwachung, die Verbrauchern und
Umwelt zugute käme, müssten auch die anderen unbestimmten Begrifflichkeiten, wie "persistent", "löslich" usw. sehr genau
definiert und mit sinnvollen Indikatoren versehen werden.
Frau Staatssekretärin Gurr-Hirsch betonte abschließend, wie wichtig faire Regeln für alle Marktteilnehmer seien. Dazu
gehöre zwingend, Verbraucherinnen und Verbrauchern jederzeit unabhängige und transparente Produktinformation zur Verfügung
zu stellen, die ihnen eine selbständige, wohlüberlegte Entscheidung ermöglichten.
Nano-Kennzeichnung weiterentwickeln
"Die Kennzeichnung von kosmetischen Mitteln, besonders die Bereitstellung von begleitenden Informationen zu den Inhaltsstoffen in der
sogenannten Ingredients-Liste, muss nicht nur im Bereich der Nanomaterialien verbessert werden" fasste
Frau Gurr-Hirsch mit Nachdruck zusammen. "Besonders im Online-Handel ist die verpflichtende Ingredients-Liste längst
überfällig". Für die Weiterentwicklung der Nano-Regeln in der EU empfiehlt Sie im Namen des Verbraucherministeriums
Baden-Württemberg:
- Einheitliche Definition für "Nanomaterial"
- Standardisierte Methoden, die
- Vergleichbarkeit ermöglichen und
- routinetauglich sind
- Kennzeichnung der Inhaltsstoffe auf Kosmetika im Ganzen verbessern.
- Begleitende, zielgruppengerechte Verbraucherkommunikation: INCI, (nano),…
- Verpflichtende INCI im Online-Handel.
- Verbraucherfreundliche Übersicht über Nanomaterialien in Alltagsprodukten (Datenbank).
Hintergrund
Im Oktober 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Empfehlung für die Definition des Begriffs "Nanomaterial".
Sie sollte fortan die Grundlage für Diskussionen über und die gesetzlichen Regelungen für diese besonderen Materialien sein.
Die EU-Kosmetik-Verordnung, die zu diesem Zeitpunkt bereits überarbeitet war und den Herstellern kosmetischer Mittel besondere
Pflichten für den Umgang mit Nanomaterialien auferlegte, enthielt zu diesem Zeitpunkt bereits eine eigene Definition dessen, was
"Nanomaterialien" in Kosmetika sind. Beide – die Empfehlung und die Legal-Definition – stimmen also nicht überein. Auch
die Definition des Begriffs "technisch hergestelltes Nanomaterial" im Lebensmittelrecht (die sich an der Empfehlung orientiert)
unterscheidet sich von der für die kosmetischen Mittel. Dieses Nebeneinander verschiedener Definitionen (obgleich zum Teil dieselben
Stoffe eingesetzt werden) ist mehr als eine bürokratische Kuriosität. Es hat unmittelbare Auswirkung auf die Überwachung und
die Umsetzung der Gesetze.
Im Jahr 2018 prüft die Europäische Kommission nun, ob die gesetzliche Definition von Nanomaterialien noch zeitgemäß
und zielführend ist. Staatssekretärin Gurr-Hirsch nahm dies zum Anlass, die Erfahrungen Baden-Württembergs direkt in
Brüssel vorzustellen und Vorschläge für die Weiterentwicklung in die Diskussion einzubringen.
Den Abschlussbericht des Marktchecks Kosmetik finden Sie hier.
Stand: Mai 2018
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